Vor aller Augen

Die Vertreibung der Juden spielte sich am hellichten Tage vor aller Augen ab. Wurden die Opfer anfangs noch auf LKWs vom Sammellager Levetzowstraße zum Deportationsbahnhof Putlitzstraße, dem größten Berlins, verfrachtet, mussten sie ab 1943 diesen Weg zu Fuß zurücklegen. Schwer mit Koffern und Bündeln beladen, wurden sie von SS durch Jagowstraße, Alt-Moabit, Turmstraße, Lübecker Straße, Havelberger Straße und Quitzowstraße getrieben, wo auf einem Nebengleis des Güterbahnhofs Moabit die Deportationszüge warteten.

Den Moabiter kann nicht entgangen sein, was sich abspielte. Joel König, Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde, erinnert sich: „Die Levetzow-Synagoge lag an einer stark belebten Straßenkreuzung, gerade neben dem Postamt NW 87. Bei aller geschäftigen Eile konnte den Berlinern nicht entgehen, dass sich die Berliner Juden, jung und alt, in das Gotteshaus schleppten, beladen mit Rucksäcken und Handgepäck. Als ich mich später aus meinem Versteck herauswagte, sah ich mit eigenen Augen, dass sie es sahen.“
Die grausamen Szenen bei der Verladung, wenn die Bewacher ihren Opfern die letzte Habe raubten und sie mit Stiefeltritten und Faustschlägen in die Waggons trieben, waren von den umliegenden Häusern und der Putlitzbrücke genau zu verfolgen.
Anfangs wurden die Deportationswaggons sogar an Regelzüge angehängt und verkehrten fahrplanmäßig: „Moabit 17:20 – Auschwitz 10:48“. In einem dieser Züge befand sich auch die 44-jährige Käthe Schlesinger, die am 9. Dezember 1943 mit ihren neun Kindern, 8 bis 18 Jahre alt, in die Gaskammern von Auschwitz geschickt wurden.
Die Deportationen waren eine Normalität und lösten keinen Protest aus.

(Quelle: Nadir.org)